Kinder wachsen heute fast selbstverständlich mit Pornobildern und erotischen Darstellungen auf. Viele Eltern reagieren panisch auf die immer frühere Sexualisierung und fragen, wie eine kindgerechte Aufklärung aussehen soll.

Lena und Paulina sind beste Freundinnen und machen am liebsten alles gemeinsam. Heute haben sie Lust auf ein neues Spiel. Also ziehen sie sich nackt aus und reiben sich gegenseitig so lange mit Duschgel ein, bis ihre Körper ganz von Schaum bedeckt sind. Lena und Paulina kichern. So haben die Frauen im Fernsehen das auch gemacht und dabei ganz laut gestöhnt.

Anschließend rennen die Mädchen zu den Nachbarn, klingeln - und stürmen laut kreischend davon. Im Pornofilm wäre die Szene zweifellos anders weitergegangen, doch Lena und Paulina interessieren sich nicht für Pornos. Sie sind erst sieben Jahre alt und haben die Szene wahrscheinlich aufgeschnappt, als ihre älteren Geschwister heimlich Sexfilme angeguckt haben, mutmaßt der Schweizer Kinderpsychologe Allan Guggenbühl, dem die Episode in seiner Praxis erzählt wurde.

Eine ganz normale Situation an einem ganz normalen Tag in einer ganz normalen Familie? Sexualtherapeuten sagen: ja. Denn Kinder interessieren sich sehr dafür, was die Erwachsenen tun, und deswegen spielen sie unterschiedslos nach, was sie beobachtet haben: den Einkauf im Supermarkt, Zahnarztbesuche oder eben Szenen aus Pornofilmen.

"Es fällt uns Erwachsenen unendlich schwer, von der eigenen sexuellen Erfahrung abzusehen, wenn wir Kinder bei solchen Spielen beobachten", sagt die Düsseldorfer Sexualtherapeutin Ina-Maria Philipps. "Wenn ein Junge sich auf ein Mädchen legt und 'Ficke Ficke' spielt, dann haben die Eltern oft Sorge, der Junge würde wirklich in das Mädchen eindringen wollen. Doch tatsächlich handelt es sich - nach allem was die Kinderpsychologie und die Sexualforschung bisher herausgefunden haben - um ein Spiel."

Und doch fällt es immer mehr Eltern schwer, das zu glauben. Sie wissen nicht mehr, was normal ist und was bedenklich, wo sie einschreiten sollen und wo es angebracht ist, ihre Kinder in Ruhe zu lassen. Blättern sie in Tageszeitungen und Magazinen, bekommen sie den Eindruck, die Welt sei ein perverses Tollhaus geworden: 17-Jährige vergewaltigen 12-Jährige, Pädophile vergreifen sich an Kleinkindern, Minderjährige treiben es mit zwölf Männern gleichzeitig.

Wenn dann auch noch der aktuelle Lieblingssong des zehnjährigen Sohnemanns Sidos "Arschficksong" ist, dann sind die meisten Eltern mit ihrem Aufklärungs-Latein am Ende. Der Berliner Porno-Rapper war mit aggressiven Texten wie "Katrin hat geschrien vor Schmerz. Mir hat's gefallen ... Ihr Arsch hat geblutet und ich bin gekommen" monatelang die Nummer eins auf den Pausenhöfen der Republik. Sollen sie ihrem Sohn erklären, was "Arschficken" eigentlich ist und dass diese Praxis - so, wie sie in dem Song beschrieben wird - nicht unbedingt etwas mit partnerschaftlicher und gleichberechtigter Sexualität zu tun hat?

Sollen sie, wie im Fall von Lena und Paulina, einschreiten und das Einseif-Spiel verbieten. Oder sollen sie die Mädchen ungestört weiterspielen lassen?

Fakt ist, dass Kinder und Jugendliche heute mehr denn je pornografischen oder auf andere Weise drastischen sexuellen Bildern ausgesetzt sind. Eine Entwicklung, die sich trotz Verboten und Jugendschutzmaßnahmen kaum mehr rückgängig machen lässt, vor allem, weil das World Wide Web so unkontrollierbar wie unüberblickbar ist.

Von den Kindern der Altersgruppe zwischen 6 und 13 surfen bereits 57 Prozent regelmäßig im Internet, das ergab die KIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest von 2006. Die Jugendlichen zwischen 14 und 19 sind inzwischen fast geschlossen online, die Quote liegt laut ARD/ZDF-Online-Studie 2008 bei 96 Prozent. Und mögen die Seiten, Mail-Programme und Foren, auf denen sie sich hauptsächlich bewegen, auch noch so harmlos sein, die Versuchung, sich ein paar Mausklicks weiter explizite Hardcore-Darstellungen anzusehen, ist groß.

Dazu kommen die allgegenwärtige Werbung, die ihre Produkte immer aggressiver über sexuelle Botschaften verkauft, das nachmittägliche Trash-Fernsehen, in dem gepiercte Mütter und saufende Väter sich gegenseitig ihr Fremdgehen vorwerfen, und die Musikindustrie, die mit Porno-Rappern wie dem erwähnten Sido ihr Geld vor allem mit schulpflichtigen Fans verdient.

Von dieser sexuell konnotierten Medienflut fühlen sich viele Eltern überfordert. Sie befinden sich in einem Zwiespalt, sagt die Sexualtherapeutin Philipps, "einerseits wollen sie liberal sein und ihr Kind modern und aufgeklärt erziehen, andererseits geht ihnen diese totale Offenheit zu weit". Sie wollen ihre Kinder um jeden Preis schützen, doch da sie nicht wissen, wie, schießen sie manchmal übers Ziel hinaus und lassen ihren Nachwuchs gar nicht mehr aus den Augen.

Sven Vöth, Sexualpädagoge bei Pro Familia in Hamburg, beobachtet eine extreme Verunsicherung bei den Eltern - und die beginnt oft lange bevor ihre Kinder überhaupt mit bedenklichen Medieninhalten in Berührung kommen: "Auf den Elternabenden, die wir zum Thema kindliche Sexualität veranstalten, geht es oft hoch her."

Ist das Eis erst einmal gebrochen, bestürmen die Eltern den Pädagogen mit Fragen: Woran merke ich, dass mein Kind Fragen zur Sexualität hat? Kann Sexualaufklärung mein Kind auf schmutzige Gedanken bringen? Wie stehen Sie zu Doktorspielen? Wo darf ich mein Kind berühren?

Die meisten Eltern seien extrem erleichtert, wenn er ihnen erkläre, dass es wichtig sei, Anlässe zu schaffen, um den Kindern Gelegenheit zum Fragen zu geben. Dass es keine Studie gebe, die belege, dass Kinder durch Aufklärung sexualisiert würden. Dass Doktorspiele, also die Neugier, den menschlichen Körper zu erkunden, zur normalen kindlichen Entwicklung gehören und dass sie ihr Kind selbstverständlich überall berühren dürfen, sofern es zu seinem Wohl geschieht und nicht etwa zur sexuellen Befriedigung des Erwachsenen.

Und die Kinder? Vöth erzählt, dass in Gruppensitzungen die Mädchen regelmäßig von den Jungs gefragt würden, ob sie es sich denn vorstellen könnten, später gleichzeitig mit mehreren Männern zu schlafen. "Da kommt man mit elf nicht so ohne weiteres drauf", sagt der 40-Jährige, "da wird deutlich, wie sehr pornografische Medieninhalte die Realität dieser Kinder konstruieren."

Diese Realitätsverschiebung kann bedenklich werden und die spätere sexuelle Entwicklung von Kindern maßgeblich beeinflussen - falls ihr von Eltern und Pädagogen nichts entgegengesetzt wird. Um den Kindern ein realistisches Bild zu vermitteln, fordern Experten deshalb eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Thema: "Kinder brauchen Räume, in denen sie das ganze aufgeschnappte Halbwissen über Analsex und Gang Bang für sich reflektieren und Fragen stellen können", sagt die Sexualpädagogin Ayse Can, Vöths Kollegin bei Pro Familia in Hamburg, "sonst gehen elfjährige Jungs davon aus, dass die Mädchen in ihrer Altersgruppe genauso geil und willig sind wie die Frauen in den Pornos."

Petra Milhoffer, Professorin für Erziehungs- und Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Gesundheits- und Sexualerziehung an der Universität Bremen, sieht das ähnlich: "Kinder, die die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen, sind geschützt. Sie werden sich von belastenden Bildern wieder distanzieren können." Für diese Kinder sieht sie eher keine Gefahr, durch pornografische Bilder und Szenen Langzeitschäden davonzutragen.

Die Zahlen geben dieser Einschätzung recht: Seit 1980 ist, laut einer Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2006, der Anteil der Mädchen, die bei Eintritt der ersten Menstruation 12 Jahre alt waren, zwar um 8 Prozentpunkte, von 27 auf 35 Prozent, gestiegen. Doch der Anteil derer, die bis zum 18. Lebensjahr noch keinen Geschlechtsverkehr hatten, ist seit mehr als zehn Jahren gleich geblieben: Er liegt bei rund einem Drittel der Jugendlichen.

Auch die Anzahl von Teenager-Schwangerschaften hat sich in den vergangenen Jahren kaum verändert. So hat das Statistische Bundesamt im Jahr 2000 790 Mütter im Alter von 15 Jahren und jünger verzeichnet, 2007 lag die Zahl bei 733.

Doch was ist mit den Kindern, die keine Eltern haben, die sich den Kopf über sie zerbrechen, denen sie Fragen stellen können und die sie in ihrer Entwicklung unterstützen? Sie werden mit ihrer Medienerfahrung allein gelassen - zu ihrem Nachteil: "Die ganze Sache ist extrem schicht- und kulturabhängig", sagt die Erziehungswissenschaftlerin Milhoffer.

In Milieus, in denen Kinder ihre Freizeit exzessiv am Computer oder vor dem Fernseher verbringen, seien Kinder schon vor der Pubertät von der sexuellen Entgrenzung in den Medien betroffen. "Diese Kinder fallen auf die Botschaften von Pornos und sexualisierter Werbung eher rein, weil sie meinen, es bringe ihnen Vorteile in der Gruppe", so Milhoffer.

Auffangen kann diese Entwicklung das, was in Fachkreisen Persönlichkeitsstärkung genannt wird. Doch die kann längst nicht mehr allein das Elternhaus leisten, zumal Kinder über solche Themen häufig nicht so gern mit ihren Eltern sprechen.

Über Aufklärungsangebote in der Schule oder an anderen geschützten Orten sind sie daher dankbar, das ergeben Studien immer wieder. In der Praxis gibt es allerdings noch immer viel zu wenige passende Angebote: Denn obwohl Sexualerziehung seit 1968 vom Kindergarten an fächerübergreifend und anlassbezogen stattfinden soll, traut sich nur eine Minderheit der Lehrkräfte an das heikle Thema - zumal, wenn der Unterricht über die Vermittlung von biologischen Fakten hinausgehen soll.

"Leider", so Milhoffer, "gibt es viel zu wenige Ausbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten, die Lehrkräfte und Erzieher für diese Aufgabe fit machen würden."

Den Sexualpädagogen von Pro Familia geht es ähnlich. Bei ihnen finanziert die öffentliche Hand nur eine einzige Vollzeitkraft - für ganz Hamburg. Der Rest wird über Spenden finanziert. Ganz schön wenig für unsere wichtigste Zukunftsressource: die Kinder.
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